Rückblick Band 4

Reimar und Ilse v. Zadow

Rückblick auf ein bewegtes Jahrhundert

Band 4: Die Nachkriegszeit 1945-1951

226 Seiten
mit Fotos
broschiert
Erschienen im Mai 2009

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1. Leseprobe

Vorwort von Ilse von Zadow

Von dem „Rückblick“ sind bisher 3 Bände erschienen, bis zum Jahr 1945. Da Reimar aber noch weiter geblickt hat – er hat bis 2007 gelebt – möchten wir aus seinen Aufzeichnungen zumindest noch einen weiteren Band folgen lassen, der die ersten Jahre nach dem Krieg enthält. Reimars Tätigkeit steht bei seinen Aufzeichnungen natürlich im Vordergrund. Deshalb will ich sie zum Verständnis der Situation für Außenstehende ergänzen, soweit ich das kann. Reimar hat in den letzten Jahren seines Lebens täglich an diesen Aufzeichnungen gearbeitet. Ich höre im Geiste noch das Tippen seiner elektrischen Schreibmaschine vom frühen Morgen bis zum Abendbrot. Da er nur noch ein funktionierendes Auge hatte, war es ihm nicht möglich, auf neuere Hilfsmittel wie zum Beispiel Computer umzusteigen. Es lag ihm daran, das Wichtigste aus seinem Leben für seine Nachkommen und Freunde festzuhalten. Er wollte gewissermaßen seinen Dank abstatten für die wunderbaren Führungen und Fügungen seines langen Lebens. Vielleicht aber wollte er auch über sein bewegtes Leben noch einmal in aller Ruhe und Konzentration nachdenken. Es wäre sicher nicht in seinem Sinne, wenn wir seine Aufzeichnungen nicht zur Vollendung bringen würden, solange es uns noch möglich ist. Deshalb bin ich sehr froh, dass meine Kinder sich der Sache annehmen und nun mit modernen technischen Mitteln in der Lage sind, aus diesen vielen reichhaltigen Schreibmaschinenseiten einen weiteren Band herzustellen. Mein Dank gilt vor allem Bettina und meinem verstorbenen Schwiegersohn Trung und nun ganz besonders auch Günter, der auch diesen Band wieder zur Vollendung bringt.

Wenn jemand findet, dass Reimar zu wenig von seiner Familie, von seinen Kindern schreibt und denkt, „er hat nur seine Sachen im Kopf“, so möchte ich ergänzen: Reimar hat sich immer sehr um uns gekümmert. Er hat sehr viel an mich geschrieben, wenn wir getrennt waren, und er hat dauernd für uns gesorgt und gearbeitet. Mit kleinen Kindern zu spielen oder gar sie zu versorgen, das lag ihm nicht und war damals auch noch nicht so üblich wie vielleicht heute. Aber er hat sie alle sehr geliebt und war sehr glücklich über jedes Einzelne seiner Kinder. Auch wenn er das nicht so direkt zum Ausdruck bringt und seine Gefühle nicht mitteilt. Im Grunde seines Herzens hat er an allen sehr gehangen und ihren Lebensweg intensiv begleitet. Dafür sind wir alle sehr dankbar.

Caputh, 15.12.2008
(heute bin ich 95 Jahre alt geworden)

Ilse v. Zadow
geb. Braumüller

2. Leseprobe

Berufliche Neuorientierung in Ost-Deutschland

Die Wahrheit war: Ich stand vor dem Nichts, musste aber meine Familie (Mutter, Frau, Sohn) zunächst wieder zusammenführen und dann aus der Abhängigkeit des Almosen-Daseins lösen, also kurz gesagt: ich musste uns vier irgendwie ernähren. Diese zwei Wochen vom 27. August bis zum 11. September 1945 dürften die schwierigsten meines ganzen Lebens gewesen sein. Ich war ratlos, wie es weitergehen könnte, und verbarg diesen Zustand vor mir und anderen durch rastlose Aktivität.
In Wahrheit hatte ich nichts anzubieten, womit ich hätte gebraucht werden können: Meine Ausbildung war unzureichend für jede Weiterentwicklung in anderer Stelle als in Altwuhrow: Nach gründlicher Lehrzeit und Erfahrungen in drei weiteren Großbetrieben als junger Verwalter unter dem Chef war ich zwar den Anforderungen des täglichen Betriebsablaufes gewachsen, mehr aber auch nicht. Nach einem zusätzlichen einjährigen Kurs in der Höheren Landbauschule Landsberg/Warthe – wiederum zugeschnitten auf ostdeutsche Großbetriebsverhältnisse – hätte ich vielleicht einen verwaisten Bauernhof oder eine Flüchtlings-Neusiedlung übernehmen können. Alle anderen Laufbahnen waren mir verschlossen.
Auch für die Übernahme eines Gutes vom Format Altwuhrows war diese rein praxis-orientierte Vorbildung unzureichend. Sie war eine Kopie des Werdegangs meines Vaters, der sich durch landwirtschaftliche Fähigkeiten ein hohes Ansehen erworben hatte, obwohl er kaum je eine Zeile schrieb. Mein Vater muss ein Naturtalent gewesen sein, der mit seinem guten Instinkt wirtschaftlich alles richtig gemacht hatte. Er war ein geborener Landwirt, und ich ein angelernter – das unterschied uns voneinander. Auf einen Neuanfang ohne Altwuhrow war ich vollständig unvorbereitet. Ich muss mir vorgekommen sein wie ein junger aktiver Offizier nach verlorenem Krieg, obwohl ich doch Reserve-Offizier gewesen war. Nur in dieser Rolle hatte ich mich bewährt, hatte auch gemerkt, dass ich gewisse organisatorische Fähigkeiten hatte, nur: damit konnte ich keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken, es interessierte niemanden. Ich wusste aber immerhin, was ich keinesfalls könnte: Kaufmann oder Handelsvertreter werden.
Meine innere Lage glich sicher der von Tausenden jungen Arbeitslosen im östlichen Deutschland heute, nur mit dem Unterschied, dass ich schon Familienvater war und zunächst meine Frau herausholen musste. Aber: selbst wenn letzteres wirklich gelingen sollte, was dann? Das einzige, was mir in dieser Zeit zum Glück nie abhanden kam, das war ein geradezu unbändiges Gottvertrauen. Das allein hat mich vor Entschlusslosigkeiten bewahrt. Und gerade das ist es, was „nicht in unseren Tagebüchern steht“. Ich schreibe es auf, weil es eine Tatsache ist und ganz selbstverständlich in meine Lebenserinnerungen gehört. Ich will dafür weder bedauert noch etwa bewundert werden – es wurde mir geschenkt.
Das Ergebnis meiner West-Erkundung war negativ: Jeder aus dem Osten rechtzeitig dorthin geflohene Landwirt, auch jeder andere Ostflüchtling half und war gastfrei. Traf man aber auf „Wessis“, die den Osten wenig oder gar nicht kannten, dann fehlte jedes Gespür für meine Situation, es gab nur Abscheu vor der Welt dort drüben: Aber selbstverständlich sollte ich hier bleiben, was wollte ich denn da drüben?! Was ich aber im Westen tun sollte oder könnte, davon hatte keiner eine konkrete Vorstellung – außer jobben – das neue Modewort lernte ich damals, und hatte nun dafür gerade keinerlei Verständnis: Was ich suchte, war eine neue Aufgabe, in die ich vielleicht hineinwachsen könnte. Ich verließ den sicheren und damals schon recht gut entwickelten Westen in der klaren Absicht, mich dort nicht niederzulassen.

Es war wie der Himmel auf Erden. Greifswald war heil geblieben, hatte weder Bomben noch Kämpfe erlebt, man ging durch unzerstörte Straßen, die Häuser – damals noch gut erhalten, ein Hauch von Kultur. Ich hatte anderes gesehen: Nordhausen, Halberstadt, Magdeburg, Hannover, Berlin, Stettin …
Greifswald verdankte seine Erhaltung einer mutigen Tat: Der Stadt-Kommandant, Oberst Petershagen und der Dekan der medizinischen Fakultät, Professor Katsch, waren den anrückenden russischen Truppen mit weißer Fahne entgegengefahren und hatten „die Stadtschlüssel“ übergeben. Damit war Greifswald zur offenen Stadt erklärt, den Russen wurde kein Widerstand geleistet.
Das war keine Heldentat gegenüber den Russen, sondern gegenüber der SS und der in dieser letzten Zeit weitgehend fanatisierten deutschen Wehrmacht.

Kaum angekommen, wurde ich ins Landratsamt geholt. Braatz – inzwischen Leiter der Finanzabteilung – stellte mich dem neuen Leiter der Abteilung Statistik im Ernährungsamt vor. Ich wurde nicht „untergebracht“, sondern tatsächlich gebraucht.
Mir war entgangen, dass im September/Oktober 1945, während ich in Pommern für meine Familienvereinigung sorgte, in der sowjetischen Besatzungszone, genannt SBZ, der erste Schritt der „Bodenreform“ durchgeführt wurde. Als ich in Greifswald erschien, war er praktisch abgeschlossen: In einer Nacht- und Nebel-Aktion waren alle Großgrundbesitzer, die mehr als 100 ha besaßen oder als Pächter bewirtschafteten, entschädigungslos enteignet worden.

Was mich erwartete, war ein unvorstellbares Chaos. Die sowjetische Militär-Administration (SMA) verlangte in immer kürzeren Terminen die für ihre Planwirtschaft unerlässlichen Zahlen: Man erspare mir Einzelheiten dazu, denn ich habe mich selbst nie ausreichend durchgefunden. Meine Zulieferer waren die rund 130 Landgemeinden im Kreis Greifswald. Sie hatten uns ihre landwirtschaftlich nutzbare Fläche (LN) zu melden, getrennt nach Acker und Grünland. Schon das wurde zur unübersteigbaren Hürde, obwohl ähnliche Zahlen aus dem Krieg eigentlich vorliegen mussten. Aus der Summe musste sich die Ernährungsgrundlage des Kreises für die jetzt fällige Anbauplanung ergeben, die – theoretisch – an die neuen Herren, „Neusiedler“ genannt, weitergereicht werden sollte.
Jeder Familie waren 10 ha des großen Kuchens zugedacht. Anwärter waren die bisherigen Landarbeiter und die Ostflüchtlinge, die zum Teil noch erwartet wurden. Vom geforderten Ertrag sollte natürlich der Löwenanteil in die Sowjet-Union gehen, und das war der Konfliktpunkt. Alle ländlichen Bürgermeister waren neu, die Vorgänger saßen, belastet als Parteigenossen (PG), im Gefängnis Neubrandenburg. Die Last lag auf ein paar früheren Guts-Sekretärinnen, und deren Zahlen waren noch Gold gegenüber denen der neuen Gemeindeverwaltungen. Es stimmte hinten und vorn nicht, konnte gar nicht stimmen. Ich sehe mich noch in einem mittelgroßen Saal um einen sehr großen Tisch herumlaufen. Darauf lagen packenweise nebeneinander die Unterlagen, wie sie von den Gemeinden eintrafen.
Es gab eine laut klappernde Rechenmaschine, zum Drehen von Hand, um die stritten sich einige. Die Mehrzahl übte sich im Addieren, Multiplizieren und in der Prozentrechnung. Und das passierte ausgerechnet mir, der in Mathematik immer eine Fünf gehabt hatte. Aber ich wäre nicht ich, hätte ich in dieser Situation von vornherein die Segel gestrichen. Ich hatte ja eine Aufgabe haben wollen, keinen Job.

[…]

Seit August 1950 stand ich unter der Anklage – genannt „Wirtschaftsstrafsache“ – „… eine ministerielle Anordnung, veröffentlicht im Informationsblatt des Ministeriums für Handel und Versorgung, nicht beachtet zu haben“, d.h. zu einer Zeit, als es noch keine gesetzliche Grundlage gab.
Es lohnt nicht, die Einzelheiten dieses langwierigen Verfahrens festzuhalten, daher hier nur kurz die Fakten: Ich hatte in Erwiderung der Anklage Einspruch eingelegt gegen mein viel zu hohes „Pflichtabgabesoll“ landwirtschaftlicher Erzeugnisse, zunächst beim Landkreis Grimmen, dann in nächster Instanz beim Ministerpräsidenten des Landes Mecklenburg-Vorpommern, der aber wie erwartet abgelehnt wurde. Es folgten zwei weitere mündliche Vernehmungen. Dabei wurde immer klarer, dass ich gegen die Staatsmacht – seit 30. Mai 1949 als „DDR“ konstituiert – verloren hatte, trotz Fehlens der gesetzlichen Grundlage. Über mich zu richten hatte das „Schnellgericht des Kreises Grimmen“, im Untertitel als „Schöffengericht“ bezeichnet.
Bei der dritten Vernehmung am 9. Dezember 1950 hatte ich, wie auch vorher, meine Einwände geltend zu machen. Ich zog ein – in Kopie noch erhaltenes – drei Seiten langes Schreiben aus der Tasche und überreichte es dem Rechtswahrer des Kreises Grimmen, der mit SED-Abzeichen versehen vor mir saß. Aus den vorherigen Verhandlungen kannte ich ihn als einen ruhigen sachlichen und vernünftigen Mann, der sich, soweit er konnte, als kooperativ gezeigt hatte. Er las es aufmerksam durch, verglich das Zahlenmaterial mit dem ihm vorliegenden. Nach etwa 30 Minuten nickte er und sagte leise: „Damit haben Sie uns erheblich Arbeit erspart.“ – Womit er vielleicht auch die Gültigkeit meiner Argumente anerkennen wollte.
Dann tastete er plötzlich seine Taschen ab und bat die am Nebentisch sitzende Sekretärin, ihm im Automaten um die Ecke eine Schachtel Zigaretten zu holen. Als wir allein waren, bat er mich ins Nebenzimmer. Dort lag auf dem Tisch ein dicker Stoß von Plakaten, im Format etwa doppelt DIN A1, dazu bestimmt, an Bäume und Häuser geklebt zu werden. Die Bekanntmachung lautete:

DER BAUER ROLF FRACKE IN ABTSHAGEN
ist vom Schnellgericht des Kreises Grimmen zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt worden, weil er …

und nun folgten genau die gleichen Anklagepunkte, wie sie in meiner Anklageschrift standen. Danach aber stand in ganz großen Buchstaben:

FRACKE HATTE NOCH NICHT EINMAL AUSGEDROSCHEN!

Die einzelnen Anklagepunkte lauteten, dass Fracke sein Soll nicht erfüllt hatte in Getreide, Hülsenfrüchten, Milch, Eiern usw. Es war genau die gleiche Reihenfolge, wie bei mir. Ich kannte ihn, sein Betrieb lag knapp unter 100 ha. Der Rechtswahrer sah mich an, wischte dann mit seiner Hand den ganzen Inhalt gewissermaßen weg und wies nur auf den letzten Absatz: „Das war’s, Herr v. Zadow“, sah nach der Uhr, gab mir schnell die Hand: „Ach, ich muss zum Bahnhof, sonst verpasse ich meinen Zug“, nahm in der Tür noch schnell die Zigaretten entgegen, und weg war er.
Dieser Mann hat mich mit seiner Handbewegung vor dem Unsinn gerettet, mich noch mit Argumenten verteidigen zu wollen: Es ging um gewaltsames Eintreiben aller noch etwa vorhandenen Vorräte – das war gemeint. Mit dem Wort „Bahnhof“ hatte er sagen wollen: „Verschwinden Sie, ehe es zu spät ist!“ Und ich konnte ihm nicht mal mehr „danke“ sagen.
Dies Dokument der Menschlichkeit im Vorpommern des Jahres 1950 ist unvergessen.

3. Leseprobe

Kirchenmusik

Es war noch vor Weihnachten 1945, dass ich beim Betreten der Nikolaikirche – noch durch den Turmeingang – eine Bekanntmachung las: „Wir singen die Bachkantate Weinen, Zagen, Sorgen, Klagen und suchen dafür noch Tenöre“. Ich fand, dass dies Angebot für mich passen könnte. Im Gottesdienst freute ich mich über das gute Orgelspiel und den straff geführten Gemeindegesang. Dass der Organist keine Literatur spielte, sondern nur improvisierte, fiel mir nicht weiter auf.

Anschließend kletterte ich – zum ersten aber nicht zum letzten Mal – die zwei Treppen zur himmelhohen Orgelempore rauf. Oben angekommen, fand ich einen einarmigen Mann an der Brüstung stehen, der rauchte, offensichtlich in Gedanken versunken, einen Zigarillo. Er blickte in die Kirche hinab und hatte mich vermutlich nicht bemerkt.

Schließlich drehte er sich fragend nach mir um und sah, dass ich vergeblich nach dem Organisten suchte, der eben noch so eindrucksvoll und gut gespielt hatte. Ob es ihn amüsierte, weiß ich nicht, als ich fragte: „Entschuldigen Sie, ich suchte nur nach dem Organisten.“ Mit einer leichten Verbeugung sagte er: „Pflugbeil.“ Das war so schön sächsisch „gesungen“, dass ich meine Überraschung verbarg, denn seinen Namen kannte ich doch längst und leicht lächelnd in meiner etwas unverblümten Art sagte: „Ach, Sie sind ja aus Sachsen!“ Er zog einmal an seinem Zigarillo, dann blaffte er mich an: „Na, ha’m Se denn schon mal einen anständigen Kirchenmusiker gesehen, der nicht aus Sachsen kam?“

So begann diese Bekanntschaft, und das war nachweislich die erste in Greifswald, aus der dann eine lebenslange Freundschaft wurde, die über Hans Pflugbeils Tod hinaus in die nächste Generation hinein reicht. Und so wurde ich Tenorsänger, nicht nur für diese Kantate sondern im Kirchenchor St. Nikolai. Ich glaube, wir sangen jeden Sonntag im Gottesdienst. Man sammelte sich vor der Kirchentür, der Kantor kam, die Notenmappe zünftig über der rechten Schulter als Gewichtsersatz für den fehlenden Arm, – „ich will doch nicht schief werden…“, den großen Kirchenschlüssel in der linken Hand. Meist wurde etwas gewartet, wer wohl noch käme, denn davon hing ab, was gesungen werden konnte: Kam im letzten Moment der Bibliotheksrat Ziegler um die Ecke – er schob immer den gewaltigen Kopf etwas vor –, dann ging es vierstimmig, er war der andere Tenor, mehr hatten wir am Sonntag meist nicht. Im Zweifelsfall kam „Dir, dir Jehova“ das passte immer. Oft reichte es nur für dreistimmige kleinere Sätze, aber es ist erstaunlich, was wir schon in diesen allerersten Wochen schafften: Distler und Pepping wurden zur „Hausliteratur“, noch ehe das Seminar gegründet war.

Greifswald, Gedenktafel für den Landeskirchenmusikdirektor an der Kirchenmusikschule

Hans Pflugbeil aus Chemnitz war wohl mit dem großen Kirchenmusiker-Examen „A“ der letzte Straube-Schüler in Leipzig gewesen. Seine erste Stelle vor dem Kriege war Schneeberg gewesen – gab es dort nicht sogar eine Silbermann-Orgel? Wir bewunderten in jedem Gottesdienst die Improvisationskunst mit der linken Hand und zwei Füßen; dazu noch Register ziehen nach einer Zeile oder auch zwischen zwei Tönen. Hans Pflugbeil hatte die erstaunliche Fähigkeit alles, was ihm in den Sinn kam, in Musik umzusetzen, ganz besonders beim Führen der Gemeinde im Choralsingen. Wer von der Einarmigkeit nichts wusste, konnte sie nur erahnen, weil das Literaturspiel ausblieb.

4. Leseprobe

Kirche

Zu unseren gemeinsamen Aufgaben gehörte der Wiederaufbau der Kirchengemeinde Brandshagen, in deren Bereich das Kirchengut Middelhagen lag, nachdem der erste Ansturm des befohlenen Kommunismus über uns hinweggebraust war.

In der Landes-Synode unterschieden wir damals zwischen standfesten und anpassungsbereiten Pastoren. Zu ihnen gehörten auch die theologischen Hochschullehrer, die alle zugleich noch ein Pfarramt zu versorgen hatten und sich dort mit dem Zeitgeist auseinandersetzen mussten. Dies richtig zu beurteilen, war äußerst schwierig, weil es ja in jedem Dorf oder Kirchspiel weitgehend vom Verhalten des politischen Partners abhing. Alle Bürgermeister waren neu, wohl alle auch parteigebunden und gehörten der Kirche nicht an. Es gehörte zu ihren vom Parteisekretariat vorgegebenen Aufgaben, die Kirche in ihrem Ort zu bekämpfen.

Mehr und mehr hatten sich aber auch regionale Unterschiede entwickelt, in die immer noch ein gewisser Einfluss der demokratisch zugelassenen Parteien hineinspielte, obwohl diese jetzt in der „Nationalen Front“ und durch den Bund der „sowjetisch-deutschen Freundschaft“ wirksam gleichgeschaltet waren. Von daher war zum Beispiel der Kreis Greifswald als CDU eingestuft, der Kreis Grimmen, in welchem Brandshagen liegt, als Alt-SPD, der Kreis Demmin als sowjetisch-kommunistisch und die kreisfreie Stadt Stralsund mit dem nördlich gelegenen Kreis Franzburg als liberal. Aber allzu ernst sollte man diese Einteilung in herkömmliche Schwerpunkte nicht nehmen. In der ländlich-dörflichen Praxis kam es immer auf beide Seiten an, wie der Pfarrer mit seinem Bürgermeister zurechtkam.

Unser neu hinzugezogener Pfarrer Strecker in Brandshagen gehörte zur standfesten Sorte, verhielt sich aber so friedfertig, dass es auch ein gestandener Parteisekretär schwer hatte, ihm jemals ernstlich böse zu sein. Ihm beim Neuaufbau eines Gemeindekirchenrates zu helfen und nach den richtigen Mitgliedern zu suchen, war für mich kein Problem. Etwas schwieriger war es in der Grimmer Kreis-Synode. Aber dort war und blieb ich vorsichtigerweise Randfigur.

Die ersten ideologischen und damit auch theologischen Konflikte zeigten sich in der Landes-Synode mit Sitz in Greifswald. Wir hatten die schwierige Aufgabe, uns eine neue Grundordnung zu geben mit den dazu gehörenden Rechten. Das kostete viele – auch nächtliche – Stunden. Aber es gab auch Heiterkeit. Unser Präses Dr. Rautenberg brachte viel Humor auf und hatte den Schalk im Nacken. Er kannte seine Pappenheimer, auch unter den vielen Professoren, und konnte im rechten Augenblick Lachsalven produzieren, die unerwünschten Komplikationen die Spitze abbrachen. Mit Dr. Rautenberg war ich zunehmend befreundet bis hin zu Beratungen im kleinen Kreis. Später, etwa 1954, besuchte er mich noch einmal in Dethlingen/Niedersachsen.

Unser musikalischer Freund, der Oberkonsistorialrat Dietrich Labs, Pastor in Groß Kiesow war der „Schleppenträger“ des Bischofs, sein geistlicher Berater. Er ordnete mich ab, bei einer Sitzungsperiode in Greifswald die Eröffnungs-Morgenandacht zuhalten. Ich wählte die Tageslosung: „Es ist des Menschen Herz ein trotzig und verzagt Ding, wer mag es ergründen?“ Für eine Synodeneröffnung nicht gerade verheißungsvoll, aber ich wich ihm nicht aus. Abgesehen von der Auslegung bemühte ich mich um das, was mir damals liturgisch richtig erschien, obwohl nicht allseits üblich. Das Morgenlied „Aus meines Herzens Grunde“ schloss nach dem „Vater Unser“ unmittelbar mit dem „Amenvers“ ab, und Hans Pflugbeil an der Orgel im Lutherhof, setzte auch schlafwandlerisch richtig ohne Vorwarnung damit ein, ohne mein „Amen“ abzuwarten – wo erlebte man so etwas damals? Labs sagte mir anschließend, dass er sich über das trotzige Herz gefreut habe.

5. Leseprobe

Ilse

Ich sammelte nun mit Feuereifer alles zusammen, was nach meiner Vorstellung im eigenen Haushalt unerlässlich wäre. Nur eines gab es nicht: einen Kochtopf für vier Personen. Darüber geriet ich in gelinde Verzweiflung. Aber ich war ja erstmal arbeitslos und hatte Zeit zum Suchen. Auf einem Müllplatz fand ich ihn schließlich, schwarz, dreckig, aber heil, die Größe passte. Ich schrieb oder telegrafierte an Ilse: „Nun kannst du kommen, wir haben einen Kochtopf.“ Ich machte mich ans Scheuern mit Sand, ich brauchte Stunden dazu.

Und sie kam! Am 2. April 1946 holte ich sie abends vom Bahnhof ab, überladen mit Handgepäck – aber wir hatten die Kraft, es gemeinsam in die neue Wohnung zu schleppen. Nach zwei Tagen war nachmittags Chorprobe zur Johannes-Passion in der Universitäts-Aula. Der ganze Chor stand in Gruppen vor dem berühmten Portal, in gespannter Erwartung, ob sie nun wirklich da wäre. Als wir um die Ecke bogen, löste sich Hans Pflugbeil aus der Gruppe und ging Ilse entgegen, um sie herzlich zu begrüßen. Dieser Augenblick ist in meinem Langzeitgedächtnis gespeichert, als wäre es gestern gewesen.

Längst vorher war geklärt, dass sie in dem früher Stettiner, jetzt Greifswalder „Seminar für Kirchenmusik“ zur nebenamtlichen Organistin ausgebildet werden wollte und sollte. Damit wurde für sie eine entscheidende Lücke in ihrer Lebensbahn geschlossen, entstanden durch ihre Heirat nach Hinterpommern. Ich glaube, dass diese Aussicht bei unserem Entschluss, Greifswald nicht zu verlassen, letztlich den Ausschlag gab. Denn ich wusste genau, was ihr bis dahin entgangen war.

Alles andere ging nun wie im Fluge, ganz selbstverständlich. Alle Schwierigkeiten mit Zuzugs- und Wohnungsgenehmigung, mit stundenlangem Anstehen, wurden jetzt zur Nebensache: Beide waren wir gesund geblieben, leistungsfähig und wir wollten von vorn anfangen. Alle meine neu gewonnenen Freunde und Freundinnen nahmen Ilse herzlich auf und halfen, wo sie konnten.

[Ilse: Mir ging es jetzt vor allem darum, dass ich mich in die schwierigen Verhältnisse einlebte, damit Günter und meine Schwiegermutter, die noch bei meiner Schwester in Ostingersleben geblieben waren, bald nach Greifswald übersiedeln konnten. Zeitziel war Günters Einschulung nach den Sommerferien.]

Das erste Werk war der Garten: Jeder, der zur Universität gehörte, vom Professor bis zur Sekretärin, konnte, wenn er wollte, ein Stück Gartenland bekommen. Bereitwillig und unbürokratisch stellte Universitätsgüterdirektor Gerlach eine günstig am südlichen Stadtrand gelegene Fläche des Versuchsgutes Schönwalde zur Verfügung. Es könnte etwa 1 ha gewesen sein. Daraus wurde die erste von mir organisierte „Pächtergenossenschaft“ und ich eröffnete damit symbolisch mein neues Arbeitsgebiet im Universitätskuratorium. Aus der Fläche wurden einschließlich eines Mittelweges ca. 30 Nutzgärten je 300 Quadratmeter, ausreichend zur Versorgung einer Familie mit Gemüse und Beerenobst, allerdings ohne Kartoffeln. Das rechteckige Gebilde wurde die Basis eines nicht eingetragenen Vereins mit dem anspruchsvollen Namen UNITAS. Ich sehe mich noch mit Messrute, 30 m langer Schnur, Trennpfählen und Nummernschildern herumlaufen. Gewiss war ich sehr stolz darauf, so vielen Familien einen wichtigen Wunsch erfüllen zu können. Wir hatten sogar eine Satzung und hielten auf Ordnung.

Auch Ilse und ich hatten natürlich unser Gartenstück, und meine gartengewohnte Frau stürzte sich mit Feuereifer auf die 10×30 m. Für uns beide war das Arbeit nach Feierabend oder sehr früh morgens im heißen Sommer. Tagsüber waren wir voll beschäftigt.

6. Leseprobe

Im Westen (1951)

Ich war also nun arbeitslos. Was tut man dann, außer sich beim Arbeitsamt anzustellen? Ich versuchte, mich auf andere Art nützlich zu machen. Die in eine sehr kurze aber sehr hohe Gemeindekirche des Dorfes Cismar umgewandelte Apsis einer hochwertigen frühgotischen Kathedrale fiel mir von Anfang an dadurch auf, dass es im oberen Bereich von Spinnweben wimmelte. Der Küster war ebenso alt wie der Pastor, keiner wagte sich in diese Himmelshöhen. Ich beschaffte mir die längste aller erreichbaren Leitern, dazu einen durch eine lange Stange bis ins Gewölbe hineinreichenden Besen und reinigte die ganze Kirche. Das war nicht ungefährlich, aber ich bin schwindelfrei. Am Sonntag drauf gab die Kirche ein ganz ungewohntes Bild. Eine Weile lang blieb es geheim, wer dies Wunder vollbracht haben könnte. Als es bekannt wurde, hatte ich einige Freunde, darunter den aus baltischen Landen stammenden Arzt Dr. Koch, der später in grenzenloser Hilfsbereitschaft unseren Sohn Günter aufnahm.

Abgesehen davon beschaffte ich mir die ersten Nachkriegsbücher, darunter die gerade erschienenen Erinnerungen des General Obersten Guderian, in dessen, zweiter Panzerarmee ich im Dezember 1941 bis kurz vor Moskau gelangt war. Immer, wenn ich beim Arbeitsamt anstand, las ich. Nun hatte ich wenigstens Anspruch auf Arbeitslosengeld, der mir bei Bindewald fehlte. Ich hatte auch nicht die Spur einer Depression, seit ich wusste, dass ich auch im Westen nicht als hoffnungsloser Sozialfall durch die Maschen gefallen war.

Seit ich überhaupt Geld verdiente, hatte ich mir vorgenommen, monatlich 100 DM West über einen Westberliner Kanal für meine in Greifswald untergebrachte Familie abzuzweigen, das waren dort 400 DM Ost. Ich glaube, dass ich diese Absicht auch bis Ende des Jahres 1951 durchgehalten habe, indem ich auf alles oberhalb des Existenzminimums verzichtete und Fahrten aller Art im Anhalterverfahren erledigte.

Was ich aber überhaupt nicht aufklären kann, das ist der Auftrag des Bauernverbandes Berlin an mich, vor den Landwirtschaftsschulen Schleswig-Holsteins und Niedersachsens eine Vortragsreihe über die Situation der Landwirtschaft in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands zu halten. Jedenfalls erhielt ich Anfang Oktober völlig unvorbereitet die Anfrage, ob ich diese Vortragsreihe übernehmen wolle und sagte postwendend zu. Denn ein anderes Angebot hatte ich ja nicht, und dieser Aufgabe war ich gewachsen. Ich arbeitete den Vortrag aus und übersandte ihn auf dem Luftwege –wie alle Westpost damals – an einen Herrn Girod im Bauern-Verband Berlin. Mit diesem traf ich dann zum ersten Vortrag zusammen, ich glaube, das war in der Landwirtschaftsschule in Oldenburg. Ich hatte mich gründlich vorbereitet, kam gut an, wurde auch von Herrn Girod so beurteilt und begann danach sofort die Vortragsreihe, allerdings unglaublich unterbezahlt.

Ich musste ja täglich in einem anderen Gasthof wohnen und bewegte mich nur im Anhalterverfahren von Stadt zu Stadt. Mittagessen erhielt ich häufig in der Landwirtschaftsschule. Die weitere Verpflegung erfolgte über Einkäufe im Lebensmittelladen, d.h. kaltes Abendbrot auf dem Zimmer, Frühstück in der Regel im Zimmerpreis inbegriffen.

Mir war eine Monatspauschale von 400 DM zugesagt, aus der ich meinen Unterhalt zu bestreiten hatte. Nur Telefonauslagen wurden extra erstattet, weil ich ja meinen Reiseplan mit den Schulen abstimmen musste. Meine Arbeitslosen-Unterstützung verlor ich dabei. In allen Schulen Schleswig-Holsteins und Niedersachsens, insgesamt 88, hatte ich zu sprechen. Den miserablen Lebensumständen zum Trotz machte mir die Vortragsarbeit Freude und befriedigte mich, weil ich sie für sinnvoll hielt.

Erst Ende Januar 1952 beendete ich mit dem 86. Vortrag diesen Dienst. Der gründlich ausgearbeitete Text ist übrigens erhalten. Ich habe ihn selten nötig gehabt, sondern sprach nach etwa vier Vorträgen immer frei. Ich bin heute überrascht darüber, wie gründlich und richtig ich die inneren Zusammenhänge der sowjetischen Planwirtschaft nach den fünf „Lehrjahren“ erfasst und dargestellt habe. Sehr viele dieser Landwirtschaftsschulen machten später bei Exkursionsfahrten auch dem Essohof Dethlingen ihren Besuch. So sah ich einen Teil der Schüler, jedenfalls aber die Lehrer, zum zweiten Mal. Dabei konnte ich feststellen, dass von meinem Vortrag doch etwas hängen geblieben war.